Herr Castellucci, Sie sind seit Mai Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Was sind Ihre dringendsten Vorhaben?
Castellucci: Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe – beides ist in unserer Welt sehr notwendig, hat aber nicht gerade Konjunktur. Die drängendste Frage, die sich mir stellt: Wie bekommen wir das wieder gedreht? Wie können wir dazu beitragen, dass Menschenrechte und humanitäre Hilfe weltweit gestärkt werden?
Die Welt investiert in Rüstung, nicht in Entwicklungshilfe …
Castellucci: Die Ausgangslage ist wirklich schwierig, vor allem, wenn man sich den Bereich der humanitären Hilfe ansieht. Er steht finanziell unter Druck – insbesondere durch den Ausstieg der USA. Aber auch die allgemeine Erosion der Regeln, die wir in der Welt beobachten können, führt dazu, dass beispielsweise der Zugang zu humanitärer Hilfe nicht gewährleistet werden kann. Die Folgen dieser Entwicklung beobachten wir tagtäglich etwa in Gaza oder im Sudan.
Was kann Deutschland tun, damit sich die Situation für die Menschen in Gaza verbessert?
Castellucci: Ich komme gerade zurück von einer Reise nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. Die humanitäre Lage in Gaza ist katastrophal. Deutschland hat die humanitäre Hilfe mehrmals aufgestockt, aber diese Hilfe muss die Menschen in Gaza auch erreichen. Hier steht Israel in der Verantwortung. Zur unabhängigen Überprüfung der Lage brauchen internationale Organisationen, die internationale Presse und internationale politische Beobachterinnen Zugang zu Gaza. Gleichzeitig befinden sich noch immer knapp 50 Geiseln in der Gewalt der Hamas. Die Hamas muss diese Geiseln sofort und bedingungslos freilassen. Es braucht außerdem einen Waffenstillstand, der dann den Startpunkt setzt für einen Prozess hin zu einer Zwei-Staaten-Lösung.
Lässt die Nachrichtenflut von Krieg und Elend die allgemeine Hilfsbereitschaft schwinden?
Castellucci: Die Menschen sind auch bei uns im Land verunsichert und es gibt wenig Zukunftsoptimismus. Deshalb schwindet die Bereitschaft, sich um die Probleme anderer zu kümmern. Das müssen wir wieder umkehren. Das ist eine riesige Aufgabe, die ich auch nicht alleine bewältigen kann. Hier sehe ich auch die Kirchen und Hilfswerke in der Verantwortung – gemeinsam müssen wir eine Kommunikation pflegen, die den Menschen wieder den Sinn und die Freude am Helfen und Teilen vermittelt.
Wie bewerten Sie denn die Rolle der Kirchen und kirchlicher Hilfswerke in der weltweiten Menschenrechtsarbeit?
Castellucci: Unverzichtbar. Der Einsatz für Menschenrechte kann nur gemeinsam mit der Zivilgesellschaft gelingen. Die Kirchen sind hierbei wichtige Partner, denn sie sind globale Organisationen und verfügen über die entsprechenden Ressourcen.
Menschenrechte und Wirtschaftsinteressen geraten international oft in Konflikt – etwa bei Rohstoffen oder Lieferketten. Können Menschenrechte in der Außenpolitik tatsächlich Vorrang haben oder bleibt das ein Ideal?
Castellucci: Menschenrechte müssen immer der Maßstab sein, an dem wir uns orientieren. Wenn sie nicht eingehalten werden, ist es unsere Aufgabe, das zu kritisieren. Wenn zum Beispiel ein Produkt unter Verletzung grundlegender Menschenrechte hergestellt wurde, hat es aus meiner Sicht auf dem europäischen Markt nichts verloren. Das müssen sowohl die Verbraucherinnen und Verbraucher als auch die Unternehmen erkennen können. Aber wir gewinnen niemanden, wenn wir mit dem moralischen Zeigefinger kommen. Unsere Aufgabe ist es, für Themen wie Lieferketten, Transparenz und Verantwortungsübernahme neue Partner zu finden und Allianzen zu schmieden.
missio München blickt in diesem Jahr insbesondere auf die Menschenrechtslage auf den Philippinen. Wie bewerten Sie die Situation dort?
Castellucci: Die Entwicklungen in vergangenen Jahren auf den Philippinen bringen unzweifelhaft auch heute noch große Herausforderungen mit sich – und hier engagieren wir uns, beispielsweise im Bereich Pressefreiheit. Besonders, wenn Dinge geschehen wie der sogenannte „War on Drugs“, hinterlässt das tiefe Wunden im Land. Die Frage ist: Wie kann ein Prozess aussehen, um solche Erfahrungen aufzuarbeiten?
Deutschland als Vorreiter beim Thema Vergangenheitsbewältigung?
Castellucci: Ich habe schon in den ersten Wochen in meinem neuen Amt gemerkt, dass Deutschland für viele Länder bei diesem Thema eine gewisse Glaubwürdigkeit mitbringt. Wir hatten in unserer Geschichte zwei Diktaturen. In der Aufarbeitung dieser Gewaltherrschaften haben wir Erfahrungen gesammelt, die auch anderen Ländern als Orientierung dienen können – im Wissen, dass jedes Land seinen eigenen Weg gehen muss. Was wir aus unserer eigenen Geschichte gelernt haben: Trotz aller Dunkelheit ist es möglich, miteinander ins Gespräch zu kommen. Manchmal dauert das Generationen. Und auch wenn es einmal geglückt ist, müssen wir weiter daran arbeiten, dass der Gesprächsfaden nicht abreißt und wir uns die Verantwortung, die wir für die Vergangenheit tragen, immer wieder bewusst machen.
Was ist aus Ihrer Sicht der größte Feind der Menschenrechte?
Castellucci: Am meisten sind Menschenrechte in Gefahr, wenn wir nicht mehr daran glauben, dass eine Welt möglich ist, in der jeder Mensch in Würde leben kann. Deshalb will ich in meiner Arbeit positive Geschichten sichtbar machen. Die Philippinen sind ein gutes Beispiel. Sie haben ihren ehemaligen Präsidenten dem Internationalen Strafgerichtshof überstellt, was diese internationale Institution stärkt. Auch wenn sich schlechte Nachrichten schneller verbreiten, wollen Menschen nicht nur Probleme sehen, sondern erfahren, dass Hilfe wirkt, Partnerschaften entstehen und etwas Gutes daraus wächst.
Wenn Sie in Ihrer Amtszeit nur eine Sache weltweit zum Besseren verändern könnten – was wäre das?
In einer Welt, in der wieder jeder nur auf sich selbst schaut und für die eigenen Interessen kämpft, hat auch Deutschland keine gute Zukunft. Ganz Europa würde darunter leiden. Wir müssen an dieser globalen Ordnung arbeiten. In meiner Amtszeit möchte ich dazu beizutragen, dass sich das Bewusstsein in unserem Land verändert. Gemeinsam mit vielen anderen möchte ich mithelfen, diese Entwicklung ein Stück weit umzudrehen.