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Titelbild missio magazin Ausgabe 5/2025 – Schwerpunkt Menschenrechte. Im Fokus ist der Monat der Weltmission mit dem Schwerpunktland Philippinen.
Dieses Interview ist im missio magazin 5/2025 erschienen.
Porträt-Foto des philippinischen Menschenrechtlers Pater Flavie Villanueva.
Titelbild: missio München
04. August 2025
Interview:   Kristina Balbach   Fotos: missio München
Interview mit Pater „Flavie“ Villanueva

"Die Mörder sind unter uns"

04. August 2025
Text: Kristina Balbach   Fotos: missio München

Die Nachricht von der Verhaftung Dutertes im Frühjahr ging wie ein Lauffeuer durch die Medien. Sie wussten sicher früher davon?

Villanueva: Ich sage es mal so: Verschiedenste Menschen hatten über einen längeren Zeitraum darauf hingearbeitet. Zuletzt hatte ich schon das Gefühl, dass wirklich etwas in Gang kommt.

Sie waren ja auch immer nah an den Zeugen.

Villanueva: Ich habe Opfer und Zeugen begleitet, auch auf ihrem Weg zurück zu Selbstwertgefühl, Heilung und Hoffnung. Wer bereit und willens war, über das Erlebte zu sprechen, dem haben wir dabei geholfen, eine sichere Möglichkeit zu finden. Andere mussten die Heimat verlassen. 

An Beweisen gegen Duterte mangelt es nicht. Allein bei YouTube gibt es zahlreiche Videos, die außergerichtliche Tötungen und deren Folgen zeigen.

Villanueva: Zu zeigen, was während Dutertes Präsidentschaft geschehen war, war das kleinere Problem. Eine Herausforderung war es, nachzuvollziehen, was er schon während seiner Zeit als Bürgermeister von Davao alles getan hatte. Wir brauchten ein umfassendes Bild von ihm als einem Richter und Henker.

Als Duterte verhaftet wurde, kandidierte er gerade wieder als Bürgermeister.

Villanueva: Ja, und er ließ seine Kandidatur weiterlaufen, obwohl er schon in Haft saß. Am Ende hat er sogar die Mehrheit der Stimmen erreicht, aber das war keine Überraschung. Sie müssen wissen, dass auf den Philippinen leider eine besondere Art der Politik betrieben wird. Sie gleicht mehr einem Zirkus. Für manche Politiker ist es chic, für andere ein schmutziges Geschäft. Aber es gibt keinen Dienst an der Gesellschaft.

Warum wählen die Filipinos jemanden wie ihn?

Villanueva: Ja, das scheint verrückt. Oft wird Armut dafür verantwortlich gemacht. Aber Duterte hat bei seinen Wählern inzwischen leider schon einen Kultstatus erreicht. Sie folgen ihm in blindem Gehorsam. Er hat Gewalt als legitimes Mittel in den Alltag der Menschen gebracht. Dass es nun einen Prozess geben wird vor den Augen der Weltgemeinschaft – dadurch kommt in mir der Funke Hoffnung wieder auf, dass wir die Kultur der vermeintlich starken Hand und der Recht- und Straflosigkeit auf den Philippinen überwinden können.

Wie haben die betroffenen Familien reagiert, denen Sie seit Jahren zur Seite stehen?

Villanueva: Eine Witwe sprach davon, endlich Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Eine andere Frau sagte mir, dass es in ihrem Leben lange nichts gegeben habe außer Verzweiflung. Jetzt fühle sie sich wie freigesprochen. Wir haben alle zusammen einen Gottesdienst gefeiert.

Warum wurde der Kampf gegen den Anti-Drogenkrieg zu einer Art Lebensaufgabe für Sie?

Villanueva: Es ist eine Tragödie mit vielen Opfern. Oft wurden die Männer als Ernährer der Familie getötet. Zurück blieben Frauen und Waisen ohne jeden Cent. Aber es geht nicht nur um ein Dach über dem Kopf oder um Essen. Es geht darum, diesen Menschen ihre Würde zurückzugeben.

Hat Ihr Engagement auch damit zu tun, dass Sie selbst einmal drogensüchtig waren? Sie bekennen sich ja öffentlich dazu.

Villanueva: Ganz sicher. Mir war selbst lange nicht klar, woher das kommt. Drogensüchtige brauchen Hilfe, keine Strafe. Ich selbst war verwundet und darf jetzt eine Quelle der Hoffnung sein. Der verstorbene Papst Franziskus hatte uns immer wieder daran erinnert, dass wir uns an die Seite der Verwundeten und Ausgestoßenen stellen sollen. Diese Berufung fühle ich sehr stark.

Nun sind die Philippinen ein mehrheitlich katholisches Land. Die katholische Kirche hat Gewicht. Dennoch haben Sie nicht allzu viele Unterstützer an Ihrer Seite, scheint es.

Villanueva: Menschenwürde und Menschenrechte sollten Themen für die Kirche sein. Es geht um den Kern des Menschseins. Bedauerlicherweise entschuldigen sich viele mit dem Hinweis auf die Trennung von Kirche und Staat. Das ist aber kein Argument. Kirche muss sich, meiner Meinung nach, immer gegen Ungerechtigkeit einsetzen.

Haben Sie sich nicht manchmal einsam gefühlt?

Villanueva: Die Einsamkeit ist mein Begleiter. Aber als gläubiger Mensch bin ich nicht alleine. Natürlich, ich habe schon häufig unter der Dusche geweint in den vergangenen Jahren. Aber das ist okay. Solche Momente erinnern mich daran, dass ich ein Mensch und verletzlich bin.

Sie erhalten auch immer wieder Drohungen.

Villanueva: Dieses Jahr gab es schon fünf, und ich nehme jede Drohung ernst. Das Problem ist, dass die Mörder immer noch unter uns sind. Vielleicht fühlen sie sich in die Enge getrieben, sie haben ja auch kein festes Einkommen, arbeiten nach Auftrag. Aber seit meine Mutter verstorben ist und meine Schwester sicher im Ausland lebt, kann ich die Ungewissheit besser annehmen.

Wie muss man sich solche Drohungen vorstellen?

Villanueva: Einmal zum Beispiel, ich hatte einen Termin im Justizministerium, kam neben mir plötzlich ein Motorrad zum Stehen. Der Fahrer sah mich an und sagt: Hallo Pater Flavie, wie geht es Ihnen? Ich: Mir geht es gut, danke. Und Ihnen? Er wieder: Ich wollte nur sagen, passen Sie immer gut auf sich auf! Dann fuhr er weiter. Ich kannte diesen Mann nicht.

Haben Sie nie daran gedacht, ins Ausland zu gehen?

Villanueva: Natürlich gab es die Überlegung. Ich habe auch Angebote bekommen. Zeitweise hatte ich meine Mutter in die USA gebracht, aber sie reiste direkt wieder zurück. Jetzt wissen Sie, woher ich meine Hartnäckigkeit habe. Wie könnte ich als Hirte meine Herde verlassen? Es bleibt noch viel zu tun.

Zum Beispiel Versöhnung. Die Kluft in der Gesellschaft muss sehr tief sein.

Villanueva: Es ist bitter, wenn die Entscheidung zu treffen ist zwischen Brot und Tod. Ich habe dazu einen Beitrag auf Facebook geschrieben. Duterte war vielleicht der Architekt. Aber für den Bau eines Hauses braucht man Zimmererleute. Nur: Wer Blut an seinen Händen hat, muss zur Verantwortung gezogen werden. Wir müssen dringend lernen, uns umeinander zu kümmern. Eine Kultur der Fürsorge pflegen anstelle einer Kultur der Gewalt. Dafür habe ich zum Beispiel das Programm „Home“ ins Leben gerufen. Es soll helfen, die Wunden zu heilen. Wir sind eine gezeichnete Nation.

Vielleicht könnte die Kirche sich dieser Versöhnungsarbeit annehmen?

Villanueva: Das wäre schön. Schließlich müssen wir als Gemeinschaft wieder aufstehen.

Wie geht es bei Ihrer Arbeit weiter?

Villanueva: Leider habe ich nur noch wenig Zeit, um an der Basis zu arbeiten. Aber ich habe tolle Mitarbeiter. Die persönlichen Begegnungen fehlen mir: die Witwen zu besuchen, den Obdachlosen zuzuhören, ihnen nach dem Duschen die Haare zu kämmen. Aber ich muss mich gerade mehr um Organisatorisches kümmern. Ich habe neue Ideen. Ich möchte ein mobiles Trauma-Heilungszentrum starten. Und ich möchte ein Waisenhaus gründen für die vielen betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Zurück nach Den Haag: Wann wird die Anklage gegen Duterte erhoben?

Villanueva: Am 23. September 2025.

Werden Sie dabei sein?

Villanueva: Ich denke nicht. Es gibt Menschen, die vor mir an der Reihe wären. Die Verwandten der Getöteten, wenn sie es denn möchten.

ZUR PERSON

Pater Flaviano Villanueva (54) ist als Menschenrechtler weit über die Philippinen hinaus bekannt. Sein Engagement gilt besonders den Armen und Rechtlosen. Bekannt wurde er als Kritiker der Regierungspolitik von Ex-Präsident Rodrigo Duterte. In diesem Zusammenhang wurde er wegen Umsturzversuchs verhaftet und später freigesprochen. Mit seinem Einsatz für die Opfer der sogenannten außergerichtlichen Tötungen sorgt Pater Flavie immer wieder für Aufsehen. So unterstützt er zum Beispiel betroffene Familien dabei, ihre ermordeten Angehörigen würdevoll zu bestatten, da den meisten Familien dafür das Geld fehlt. Mehr zum Anti-Drogenkrieg auf den Philippinen und den Folgen lesen Sie in der Reportage "Wenn der Staat zum Henker wird" aus dem missio magazin 5/2025 und in einer Reportage aus dem missio magazin 3/2018 "Der Präsident kennt kein Erbarmen"