Herr Ziegler, Westafrika wird erschüttert von einer Reihe von gewaltsamen Machtwechseln.
Und jetzt wartet jedermann auf den nächsten Putsch, der wahrscheinlich in Kamerun stattfinden wird. Paul Biya ist seit 42 Jahren an der Macht. Ja, das ist eine erstaunliche Serie. Wie ein Buschfeuer.
Was sind die Gründe?
Ich will zuerst einige historische Bemerkungen machen. Im November 1954 begann der algerische Befreiungskrieg. Dieser Krieg war sehr verlustreich für die französische Kolonialarmee. In einer tiefen Krise kam in Paris de Gaulle wieder an die Macht. Sein Wille war, unbedingt Algerien zu behalten. Das konnte er nur, wenn er den französisch beherrschten Staaten in Afrika eine Möglichkeit der Emanzipation gab. So hat sich das neokoloniale Reich Frankreichs konkretisiert. Eine ganze Reihe von Staaten sind entstanden, die formell souverän geworden sind. Sie hatten Verteidigungsverträge mit Frankreich, französische Militärbasen auf jedem Territorium wurden eingerichtet, eine gemeinsame Währung und eine totale wirtschaftliche Abhängigkeit wurde geschaffen.
Mit welchen Folgen?
35 Prozent aller Afrikaner sind permanent schwerst unterernährt auf einem Boden, der meist sehr fruchtbar ist. Afrika hat eine unerhört kompetente und arbeitsame Bauernschaft. Sie begrüßen jetzt diese Militärputsche als eine Befreiung. Die französische, neokoloniale Politik - wirtschaftlich, militärisch, mit der Ausbeutung der Bodenschätze - ist der Grund dafür. Rohstoffe, wie Bauxit in Guinea, Erdöl in Gabun, werden geplündert. Auch im Niger, als einem der größten Uranproduzenten. In Mali sind die Bodenschätze vor allem Gold. Überall findet diese Ausbeutung statt. Überall führt sie zu fürchterlichem menschlichem Elend. Die Bürger sind jetzt enthusiastisch und voller Hoffnung, denn diese Militärregimes brechen mit Frankreich. Sie wollen die Militärbasen abschaffen, die eigenen Bodenschätze unter Kontrolle bringen und die Währungsunion beenden.
Als Sonderberichterstatter der UNO sind Sie damals verschiedene Male in Niamey gewesen.
Niger ist ein Musterbeispiel dieser neokolonialen, absurden, mörderischen Ausbeutung. Auf einer Million Quadratkilometern leben 25 Millionen Einwohner. Alle aus uralten, hochinteressanten Traditionsgesellschaften, die Haussa, die Peulh, die Tuareg, die Djerma. Gemäß dem Human Development Index ist Niger das zweitärmste Land der Welt. Alle zwei, drei Jahre gibt es eine Hungersnot. Der Hunger ist eine immer wiederkehrende schreckliche Plage.
Warum ist das so?
Weil das Riesenterritorium nur vier Prozent Agrarfläche hat. Es sind nur zwei Landstriche auf beiden Seiten des Nigerflusses, wo Intensivlandwirtschaft betrieben werden kann. Und diese sehr beschränkte Landfläche führt es mit sich, dass nie genug autonom Nahrung produziert werden kann. Jetzt haben wir aber mit Niger einen der wichtigsten Uranproduzenten der Welt. Und diese Minen werden seit der Unabhängigkeit (wie auch zuvor) von Frankreich ausgebeutet, von Areva, einer Staatsgesellschaft, die heute Orano heißt und über 65 Prozent des Stroms in Frankreich liefert. Sie diktiert die Ausbeutungskonditionen. Immer, wenn ein Präsident sich mit der Areva angelegt hat, wurde er durch einen Staatsstreich gestürzt und ein genehmer neuer Präsident wurde eingesetzt, der den Status quo abgesegnet hat.
Das müssen Sie genauer erklären.
Dieser Status quo ist folgender: Der Plan der Weltbank war, die beidseitig situierten Agrarflächen am Niger-Strom auszuweiten auf 440 000 Hektar. Dort könnte Land bewässert werden mit einem Kapillarsystem. Eine neue Technik, die von der Weltbank popularisiert worden ist. Ein technisches System, bei dem Kanäle mit Pumpen installiert werden. Eine Bewässerung, die dann zwei oder sogar drei Ernten im Jahr erlauben würde, und die somit die Hungersnöte im Niger auf alle Zeiten bannen würde. Das kostet aber nach Weltbank-Budget 280 Millionen Dollar. Aber einer der größten Uranproduzenten der Welt hat nicht den kleinsten Heller übrig, um diese Bewässerungsanlage zu finanzieren.
Wird sich etwas ändern, oder entwickeln sich Hoffnungsträger wieder zu Despoten?
Nein, das glaube ich nicht. Die Situation jetzt ist so zugespitzt, dass kein Machthaber, auch nicht der neue militärische Staatspräsident, es überleben könnte, wenn er Areva nicht unter Kontrolle bringen würde. Aber Frankreich wird Widerstand leisten. Präsident Macron sagt, die Militärbasen bleiben. Sie müssten militärisch bekämpft werden. Würde man Macron Recht geben, bliebe alles beim Alten. ,,Im Namen der Demokratie.“ Dabei heißt das: im Namen der Korruption, der Plünderung und des Elends.
Welche Faktoren spielen noch hinein?
Es kommt dazu, dass in Ländern wie Mali und Burkina Faso noch die Gefahr der Dschihadisten besteht. Ob dies allein zu meistern ist, allein durch die Putschisten, wenn die Franzosen aus dem Land gewiesen werden, das müsste sich erst noch zeigen. Es ist eine fürchterliche Situation. Aber die Hoffnung der realen Befreiung besteht.
Sie werden sich neue Verbündete suchen, wie Russland oder China!
Wichtig ist, finde ich, dass man versteht, dass diese Militärputsche einer historischen Notwendigkeit gehorchen. So konnte es nicht weitergehen mit dem Elend, mit dem Hunger, mit der Korruption. Dass die neue Generation das nicht mehr akzeptiert, kann ich verstehen. Aber das führt nun zum diplomatischen und militärischen Bruch mit den Franzosen, die bisher eine starke Rolle gespielt haben im Kampf gegen die Islamisten. Die Islamisten sind immer noch da. Es braucht neue Verbündete. Das muss die Europäische Union sein!
Rechtfertigt das gewaltsame Umstürze gegen gewählte Regierungen?
Natürlich wäre es theoretisch gut, wenn es eine lebendige Demokratie gäbe, das wäre an sich tausendmal besser als ein autoritäres Militärregime. Aber was von Frankreich als Demokratie gehandelt wird, ist reine neokoloniale Ausbeutung. Und führt zu fürchterlichem menschlichen Elend. Wegen schwerer Unterernährung haben in Mali nur 25 Prozent der Frauen genug Milch, um ihre Kinder zu stillen. 500 000 afrikanische Frauen sterben jährlich bei der Geburt. Die Lebenserwartung in Mali ist die Hälfte von der in Europa. Das ist unannehmbar. Das muss ein Ende nehmen.
Was ist zu tun?
Zum Beispiel haben die Europäische Union und die meisten europäischen Staaten, auch die Schweiz, sofort die bilaterale Hilfe eingestellt. Das ist verbrecherisch. Millionen Menschen im Niger überleben nicht ohne humanitäre Hilfe.