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Titelbild missio magazin Ausgabe 6/2025 – Plakat aus einem Schutzhaus auf den Philippinen mit dem Slogan "Here, everyone is safe."
Diese Reportage ist im missio magazin erschienen.
Ein Kind, das im Schutzhaus untergekommen ist, steht hinter einem halbtransparenten Vorhang, den es mit beiden Händen hält.
Titelbild: Jörg Böthling
07. Oktober 2025
Reportage:   Steffi Seyferth   Fotos: Jörg Böthling
Reportage von den Philippinen

Wo Kindheit neu beginnt

07. Oktober 2025
Text: Steffi Seyferth   Fotos: Jörg Böthling

Brustbild von Monique Gumban, Mitarbeiterin im Schutzhaus. Sie trägt eine Brille und lächelt in die Kamera.Monique Gumban arbeitet an sechs Tagen in der Woche im Schutzhaus.PLÖTZLICH HÖRTE SIE ein Schluchzen. Dann Schreie. Und das dumpfe Geräusch eines Schädels, der wieder und wieder gegen die Wand schlug. Bam. Bam. Bam. Monique Gumban, Sozialarbeiterin in einem Schutzhaus für missbrauchte Mädchen, wollte sich gerade schlafen legen, als eine der Bewohnerinnen im Nebenzimmer eine Panikattacke bekam. Sie rannte hinüber, hielt das zitternde Kind fest, redete beruhigend auf es ein – und blieb, bis es eingeschlafen war. Es war der erste nächtliche Notfall, den Monique Gumban meistern musste. Seitdem kamen weitere dazu. „Wir arbeiten hier rund um die Uhr“, sagt die junge Sozialarbeiterin. „Krisen wie diese können jederzeit auftreten“. Das Schutzhaus für Mädchen zwischen sieben und fünfzehn Jahren liegt etwa eine Stunde von der pulsierenden Millionenstadt Manila entfernt – geführt wird es von den Schwestern vom Guten Hirten. Rund 50 Mädchen leben hier, verteilt auf zwei Häuser inmitten grüner Bäume und zwitschernder Vögel. Sie alle haben sexuellen Missbrauch erlebt – oft durch Väter, Onkel oder Nachbarn.

„Die Mädchen sind schwer traumatisiert, wenn sie zu uns kommen“, sagt Ailyn Binco von den Schwestern vom Guten Hirten. „Viele können kaum essen, nicht schlafen, haben Albträume.“ Die erlebte Gewalt hinterlässt tiefe Wunden. Und auch die Trennung von der Familie, selbst wenn sie kein sicherer Ort war, ist für viele ein schmerzlicher Bruch. Und dann gibt es welche, die gar keine Familie haben – wie die 16-jährige Gwen.

Gwen steht am Fenster und schaut hinaus. Sie wendet dem Betrachter den Rücken zu.Die 16-jährige Gwen wurde als Baby ausgesetzt.Ihre Chancen im Leben standen von Anfang an schlecht: Als Baby wurde sie von ihrer Mutter ausgesetzt, sie wuchs in wechselnden Pflegefamilien auf, wurde sexuell missbraucht, kam erst in ein anderes Schutzhaus und lebt nun seit fast drei Jahren bei den Schwestern vom Guten Hirten. Der Täter, ein Nachbar ihrer letzten Pflegefamilie, wurde angezeigt. Doch gefasst wurde er bisher nicht. „In diesem Land können sich Täter leicht verstecken“, sagt Schwester Ailyn Binco. „Vor allem, wenn sie Geld haben.“ Gwen, die wie alle Mädchen hier aus Sicherheitsgründen unter anderem Namen im Schutzhaus lebt, hat große Ziele.

Sie möchte die Schule abschließen und als Gastronomie-Managerin für die Schifffahrt tätig sein. Und sie will Mädchen helfen, die ähnliches erlebt haben wie sie. „Hier ist der erste Ort, an dem ich mich sicher und geborgen fühle“, sagt sie. „Ich hoffe, dass ich eines Tages etwas zurückgeben kann – für all das, was die Schwestern und Sozialarbeiterinnen für mich getan haben.“

Von Geburt an vernachlässigt

Schwester Ailyn Binco legt den Arm um ein Mädchen, das einen Mundschutz trägt, und bedeckt dabei einen Teil ihres Gesichts. Diese umarmt ihrerseits die Schwester.Schwester Ailyn Binco ist gelernte Sozialarbeiterin und kennt die Brennpunkte im Land.Im Garten, durch den fast immer ein sanfter Wind weht, sitzen ein paar Mädchen beisammen und musizieren. Gitarre spielen oder die neuesten Popsongs einstudieren – damit beschäftigen sich viele hier in ihrer freien Zeit. Gerade ist die US-amerikanische Sängerin Taylor Swift hoch im Kurs.

„Die meisten erfahren schon lange vor ihrer Ankunft bei uns Vernachlässigung – oft von Geburt an“, sagt Schwester Ailyn Binco. „Zusätzlich zum sexuellen Missbrauch haben viele nie eine Schule besucht, kaum medizinische Versorgung erhalten und sind unterernährt, wenn sie hier ankommen.“

Ein strukturierter Alltag, der Schulbesuch, regelmäßige Therapiestunden – all das sei ebenso wichtig wie das Gefühl von Geborgenheit und Zugehörigkeit. „Was sie hier finden, ist oft das erste Stück Normalität in ihrem Leben“, sagt Schwester Ailyn Binco. An diesem Nachmittag trifft sich Sozialarbeiterin Monique Gumban mit Dimple. Die 16-Jährige wurde von einem ehemaligen Nachbarn missbraucht und lebt seit über fünf Jahren im Schutzhaus – so lange wie kaum eine andere Bewohnerin. Bald steht ihr Abschied bevor. Auch das gehört zum Konzept: die Eingliederung zurück in die Gesellschaft – idealerweise zurück zu Verwandten. Doch das ist nicht immer so einfach.

„Den Kontakt zur Familie aufrechtzuerhalten ist eine der größten Herausforderungen“, sagt Monique Gumban. „Wir wünschen uns, dass die Mädchen besucht werden, dass die Bindung zu vertrauten Personen bleibt, doch meistens bleiben die Besuche aus.“ Oft fehle einfach das nötige Geld für die Anreise. In anderen Fällen aber wird der Kontakt bewusst abgebrochen, weil der Vater oder Onkel angezeigt wurden. Häufig ziehen die Mädchen ihre Aussage dann wieder zurück. „Kaum eine hält diese psychische Belastung aus“, sagt Schwester Ailyn Binco. Doch das Verhältnis zur Familie bleibe zerrüttet.

Schlafraum der Mädchen im SchutzhausGemeinsam leben, gemeinsam leiden: Viele der Mädchen werden enge Freundinnen.Und doch gibt es Mädchen, die durchhalten – und ihre Peiniger tatsächlich vor Gericht bringen. Dann ist es die Aufgabe der Schwestern und Sozialarbeiterinnen, sie so gut wie möglich darauf vorzubereiten. „Die Gerichtsverhandlungen hier sind alles andere als kindgerecht“, sagt Schwester Ailyn Binco. „Manche Mädchen werden durch ihre Aussage erneut retraumatisiert.“

Wo Dimple nach ihrer Zeit im Schutzhaus leben wird, ist noch unklar. Auch bei ihr scheint eine Rückkehr zur Familie kaum möglich. Ihr Vater wurde 2019 während des brutalen Anti-Drogenkriegs unter Ex-Präsident Rodrigo Duterte von der Polizei erschossen. Ihre Mutter – drogenabhängig und immer wieder im Gefängnis – hat keinen Kontakt mehr zu ihr. „Ich habe insgesamt neun Geschwister“, sagt Dimple. „Aber außer von einer Schwester weiß ich nicht, wo die anderen sind.“

Mädchen und Frauen als Menschen zweiter Klasse

Auf den Philippinen spielt die Familie eine zentrale Rolle. Oft leben mehrere Generationen unter einem Dach. Kinder gelten als Segen. Und doch leben rund zwei Millionen Kinder auf der Straße, weil ihre Eltern nicht für sie sorgen können oder wollen. Sie werden vernachlässigt, ausgebeutet, sich selbst überlassen. „In unserer Gesellschaft werden Frauen und Mädchen oft als Menschen zweiter Klasse gesehen. Ihre Rechte und ihre Würde werden missachtet – und genau das macht sie häufig zu Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt“, sagt Schwester Ailyn Binco. Das sei ein großes strukturelles Problem im Land.

Ein Mädchen hält ihr in der Gruppenthearpie gemaltes Bild vor ihr gesicht. Es zeigt, wie sie die dunkle Vergangenheit, die Leere der Gegenwart und die hoffnungsvolle Zukunft sieht.Über Vergangenheit und Zukunft reflektieren: Viele Mädchen blicken hoffnungsvoll nach vorne.

Die Mädchen, die bei den Schwestern vom Guten Hirten landen, haben in der Regel nicht einmal eine Geburtsurkunde. Offiziell existieren sie nicht. Das Dokument zu beschaffen ist dann der erste Schritt. „Nur so können sie sich in einer Schule einschreiben und am Leben teilhaben“, sagt Schwester Ailyn Binco.

Am späten Nachmittag wird es lebendig im Schutzhaus. Stühle werden zu einem Halbkreis zusammengerückt – der Gemeindepfarrer ist zu Besuch. Bruder Jayee Trajico kommt regelmäßig, bringt Musik mit und spricht mit den Mädchen. Heute sollen sie aufmalen, was ihnen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einfällt. Konzentriert wird gezeichnet, bunte Stifte werden ausgetauscht. Auf den Papieren entstehen schwarze Wolken und große Träume: Einmal den Eiffelturm besuchen, ein eigenes Haus, eine glückliche Familie. In der Zukunfts-Spalte zeichnet Dimple einen Fotoapparat. Später möchte sie Fotografin werden – die Welt aus ihrer Perspektive zeigen.

Hintergrundinformation: Zuflucht vor Gewalt und Missbrauch

Sieben Schwestern vom Guten Hirten, die im Schutzhaus arbeiten, stehen vor einem Gebäude. Eine von Ihnen ist Schwester Ailyn Binco.Die Schwestern vom Guten Hirten betreiben auf den Philippinen mehrere Schutzhäuser, in denen vernachlässigte und missbrauchte Mädchen ein sicheres Zuhause finden. Sexualisierte Gewalt und Diskriminierung gegenüber Mädchen und Frauen sind in der philippinischen Gesellschaft weit verbreitet. Seit einigen Jahren wächst zudem die Zahl der Opfer, die online sexuell ausgebeutet werden. Schätzungen zufolge sind bis zu einer halben Million Kinder im Land betroffen. Viele werden von ihren eigenen Eltern zu sexuellen Handlungen vor der Kamera gezwungen, die Bilder werden im Internet verkauft. Für manche der letzte Ausweg, um Geld zu verdienen. „Es ist ein Teufelskreis“, sagt Schwester Ailyn Binco. Armut sei fast immer die Ursache für diese Verbrechen. Die 56-jährige Ordensfrau bringt viel Erfahrung in der Arbeit mit traumatisierten Kindern mit. Bevor sie in den Orden eingetreten ist, war sie als Sozialarbeiterin für die Caritas Manila tätig. Das Ziel der Schwestern vom Guten Hirten ist es, die Mädchen entweder wieder in ihre Familie oder bei Verwandten zu integrieren – oder ihnen den Start in ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Im Monat der Weltmission im Oktober ist Schwester Ailyn Binco zu Gast bei missio München. Lernen Sie sie und weitere Gäste von den Philippinen beim Festgottesdienst zum Sonntag der Weltmission am 26. Oktober 2025 in St. Josef in Memmingen persönlich kennen. Alle Infos: www.weltmissionssonntag.de