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"Ich sehe Zwölfjährige, die beschnitten sind" 


02. Februar 2023
Allein in Deutschland leben rund 75.000 beschnittene Frauen. Viele Mädchen sind bedroht. Die Münchner Gynäkologin Dr. Eiman Tahir sieht in ihrer Praxis eine steigende Zahl an Patientinnen.
© missio München

"Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht eine Frau behandle, die von Genitalverstümmelung betroffen ist. Ich sehe Zwölfjährige, die beschnitten sind. Die Familien stammen aus Somalia, Sudan oder Eritrea, aus Burkina Faso oder Nigeria." Neunzig Prozent der Patientinnen der aus dem Sudan stammenden Medizinerin haben Migrationshintergrund. "Etwa ein Drittel davon ist von Genitalverstümmelung betroffen."

Bewusst spezialisiert hat sich die Gynäkologin dabei nicht: "Es war eher eine Dynamik. Als ich die Praxis vor gut zehn Jahren übernommen habe, wechselte innerhalb eines Jahres fast der ganze Patientinnenstamm. Migrantinnen reisen teilweise aus anderen Bundesländern an." 

Große Herausforderung für Ärzte, Ärztinnen und Pflegekräfte

Dabei übersteigt der Bedarf der Patientinnen bei weitem das medizinische Angebot: "Es gibt in München noch eine Chirurgin, die betroffene Frauen operiert. In Nordrhein-Westfalen kenne ich noch einen Kollegen, der sich darauf spezialisiert hat." Dr. Tahir hält daher weit über Bayern hinaus Vorträge für Gynäkologinnen, Hebammen, Kinderärzte und Sozialpädagogen. "Gerade in Kliniken kommen immer mehr Ärzte und Pflegekräfte mit solchen Frauen in Berührung. Ist eine Patientin nach dem sogenannten Typ 3 beschnitten – also unter Umständen mit entfernter Klitoris und einer Vagina, die bis auf eine kleine Öffnung für Urin und Blutung zugenäht ist –, eine solche Frau kann man während der Geburt nicht vaginal untersuchen, da kann man keinen Katheter legen, die Anatomie ist völlig verändert. Das ist eine große Herausforderung."

Als Ärztin im Praktikum hatte Dr. Tahir an der Uniklinik von Khartoum im Sudan gearbeitet, aber die Chance, die Umstände dort verbessern zu können, als gering eingeschätzt. "All die Jahre floss das Geld nur ins Militär statt in die Gesundheit der Menschen. Das ganze System ist marode. Ich habe während meiner zwei Jahre dort so viele Totenscheine ausstellen müssen, wie wohl nie mehr in meinem Leben."

Nur Aufklärung bringt Umdenken

Ein wirkliches Umdenken könne es nur über Aufklärung geben. "Diese grausame Tradition ist uralt. Man kann sie nicht innerhalb kürzester Zeit beenden, schon gar nicht mit Gesetzen. Sie muss aus den Köpfen. Wichtig ist auch, den Beschneiderinnen Alternativen für ihren Lebensunterhalt an die Hand zu geben. Zum Beispiel ein Stück Land." Die aktuell sinkenden Zahlen genitalverstümmelter Frauen weltweit bewertet sie mit Zurückhaltung. "In Krisenländern wie Somalia oder Sudan stehen solche Fortschritte auf weichem Untergrund. Die Lage kann sich schnell wieder ändern."

Die Arbeit der mehrfach ausgezeichneten Gynäkologin ist immer wieder bedroht, da die Behandlungen zeitaufwändig und für die Krankenkassen offenbar unwirtschaftlich sind. "Ich passe nicht ins Raster. Jetzt soll ich viel Geld zurückzahlen. Sogar der frühere Münchner Oberbürgermeister Christian Ude hat sich für mich eingesetzt. Bislang ohne Erfolg. Viele meiner Patientinnen sind hochtraumatisiert." 

Drohende Genitalverstümmelung ist Asylgrund

Die 56-Jährige ist im Sudan aufgewachsen, wo Beschneidung von Mädchen gängige Praxis ist. Tahir studierte Medizin in Berlin. Für ihre Doktorarbeit vertiefte sie das Thema, arbeitete im Sudan. 2002 rettete diese Doktorarbeit in München vor Gericht eine sudanesische Familie mit drei Mädchen vor der Abschiebung. Ein Präzedenzfall. Inzwischen ist drohende Genitalverstümmelung ein Asylgrund.

missio München fördert in mehreren afrikanischen Ländern Projekte gegen weibliche Genitalverstümmelung. Auch Eiman Tahir reist jedes Jahr nach Afrika, um ein Umdenken voranzubringen.  

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