Nach dem Staatsbankrott bleibt für De Gaule Akel eine gestohlene Rente und die Erinnerung an gute TageES WAREN GOLDENE ZEITEN für Familie Akel. In den späten 1960er Jahren in Beirut, als die Metropole am östlichen Mittelmeer als "Paris des Nahen Ostens" bekannt war. Man bewohnte ein hübsches Jugendstil-Haus im historischen Viertel Gemmayzeh, fußläufig zum Meer. Zum parkähnlichen Al Burj, dem wichtigsten Platz in Beirut, waren es nur wenige Gehminuten. Dort ließ es sich am Wochenende gut flanieren, unter Palmen entlang der Springbrunnen. Oder man entfloh Hitze und Jetset und verbrachte die Sonntage im Sommerhaus in den kühleren Bergen. Kein Wunder, dass der Sohn der Familie damals mit Vornamen "De Gaule" heißen musste, nach dem großen französischen Staatsmann Charles de Gaulle, dessen Politik den Libanon einige Jahre geprägt hatte.
Tiefe Spuren von Krisen und Misswirtschaft
Schon lange ist nichts mehr vom einstigen Glanz Beiruts übrig. Bürgerkrieg, Krisen und Misswirtschaft haben tiefe Spuren im ganzen Land hinterlassen. Zuletzt zwangen die Beschränkungen der Pandemie die Bürger wirtschaftlich in die Knie. Und als die Beiruter dachten, dass nichts mehr ihre miserable Lage toppen könne, explodierten im August 2020 knapp 3000 Tonnen nachlässig gelagertes Ammoniumnitrat im Hafen. Die Wunden klaffen bis heute tief, im Stadtbild und in den Herzen der Bewohner.
De Gaule Akel lebt noch immer in dem Haus, in dem er vor 70 Jahren geboren wurde. Dreimal ging es in Flammen auf, zum Beispiel als es während des Bürgerkriegs Anfang der 1980er Jahre plötzlich nahe der Frontlinie lag, die Beirut in einen muslimisch geprägten Westen und einen christlichen Osten teilte. Dreimal half er mit, das Haus wieder aufzubauen. Heute ist er der letzte Bewohner. Er hat sich in jene drei Zimmer zurückgezogen, die früher einmal Dachboden waren. Bunte Plastikeimer stehen herum; es regnet durch das marode Dach. In einer alten, aber sorgsam polierten Vitrine erinnern Bilder an die guten Jahre: Al Burj, der märchenhafte Platz. Der Vater. Nichten, die längst im Ausland leben.
Zahlungsunfähiger Staat, wertlose Krankenversicherungen
De Gaule Akel entschuldigt sich für sein verwaschenes Französisch. Das Sprechen fällt schwer ohne Zähne. Und Zahnprothesen sind im Libanon fWer noch Geld überwiesen bekommt, holt es jetzt von den Konten.ür Menschen wie ihn unerschwinglich geworden. Dafür hat er heute seinen Anzug aus dem Schrank geholt. Ein hochgewachsener, stolzer Mann. Umso mehr schämt er sich seiner misslichen Lage. Über Jahrzehnte diente er dem libanesischen Staat, war beim Bildungsministerium angestellt. Da dieser nun zahlungsunfähig geworden ist, bekommt er als Rentner keine Unterstützung mehr. Die Medikamente gegen Bluthochdruck und Diabetes wird er sich bald nicht mehr leisten können, denn seine Krankenversicherung ist wertlos geworden. "Nach all den Jahren muss ich um Hilfe bitten, das ist für mich wie betteln", sagt er.
De Gaule Akel ist einer von derzeit rund 8000 Menschen, die die Franziskaner im Stadtgebiet mit dem Nötigsten versorgen. Zum Beispiel mit einer Lebensmittelbox, angelehnt an die Vorgaben des Welternährungsprogramms. Darin sind Reis, Nudeln, Konserven, Öl oder Mehl – wobei es durch den Krieg in der Ukraine zuletzt immer wieder zu Lieferengpässen kam. Dazu bekommen die Bedürftigen Zahnpasta, Klopapier oder Waschmittel, um ein Mindestmaß an persönlicher Hygiene möglich zu machen.
Der Mittelstand rutscht in die Armut
Fahdi Bejani steht in der engen Küche der kleinen Wohnung und lässt den Blick über die Konserven und Tüten schweifen. Er ist der "Operations Manager" der Franziskaner, also eine Art Betriebsleiter, und damit Teil des Teams. Er schüttelt lächelnd den Kopf: "Herr Akel ist so sparsam – obwohl ich weiß, dass er seine Lebensmittel sogar mit Nachbarn teilt, die sich schämen, uns um Hilfe zu bitten." Bejani besucht bei seiner heutigen Tour die Senioren, die alten Frauen und Männer, die unvermittelt in die Armut abgerutscht sind. Lebensmittel hat er nicht dabei, die gab es vergangene Woche. Er will nur vorbeischauen. Sehen, ob alles in Ordnung ist, ein bisschen reden und vor allen Dingen zuhören.
Ohne das Team der Franziskaner um Fahdi Bejani hätte Saada Kazzi kaum mehr etwas zu essen.Auch das ist wichtig. Bejani, der vor seinem Job bei den Franziskanern schon für verschiedene Nicht-Regierungsorganisationen gearbeitet hat, erklärt: "Natürlich hatten wir auch schon vor dieser großen Krise Armut im Libanon. Aber jetzt haben wir es mit einer völlig neuen Art davon zu tun. Viele Libanesen aus der Mitte der Gesellschaft stehen plötzlich vor dem Nichts. Geld, das auf Bankkonten lag, ist verschwunden. Das trifft besonders die Alten – und auch Familien, die jetzt zum Beispiel keine Schulgebühren mehr bezahlen können.“ Auch dabei helfen die Franziskaner aus, so gut es eben geht.
Im Büro des Franziskaner-Konvents in der Beiruter Altstadt sitzt unterdessen Bruder Firas Lutfi seufzend über seinen Unterlagen. Der Regionalobere des Ordens ist froh, dass überhaupt wieder etwas möglich ist. Die Explosion im Hafen hatte auch bei ihnen das Dach abgedeckt und sämtliche Fenster aus den Angeln gehoben. Der Kindergarten auf dem Gelände wurde völlig zerstört. Inzwischen können die Treffs für Familien, die Jugend-Workshops oder die therapeutischen Angebote im psychosozialen Zentrum wieder stattfinden.
Täglich suchen mehr Menschen Hilfe
Firas Lutfi, der eigentlich Syrer ist und während des Krieges in seiner Heimat den Menschen in Aleppo zur Seite stand, ist es gewohnt, aus wenig viel zu machen. Dennoch sorgt er sich: "Normalerweise konzentrieren wir einen großen Teil unserer Hilfe auf die vielen geflüchteten Familien aus Syrien, dem Irak oder anderen Ländern, die nur wenig haben. Mit der laufenden Nothilfe unterstützen wir gerade aber fast zu 100 Prozent libanesische Haushalte. Und jeden Tag suchen mehr Menschen unsere Hilfe. Es ist ernst!" Dabei würde Lutfi gerne langfristig denken. Viele Ideen haben sich bei ihm und seinem Team angesammelt: "Wir wollen die Menschen dabei unterstützen, für sich hier im Libanon gute Perspektiven aufzutun anstatt abzuwandern. Zum Beispiel mit Coaching für junge Leute, die Arbeit suchen. Vielleicht sogar eine Jobbörse über die Franziskaner", erzählt er von seinen Plänen für eine Zeit nach der Nothilfe.
Shaghik Ishkhanianmit ihren Freunden im "Kalei".Shaghik Ishkhanian wird davon nicht mehr profitieren. Die 21-Jährige sitzt mit ihren Freunden im "Kalei", einer trendigen Bar im Ausgehviertel Mar Mikhael, die es in besseren Zeiten auf die Liste des beliebten Reiseführers Lonely Planet geschafft hat. Seit heute Morgen hat Shaghik ihr Krankenpflege-Examen in der Tasche. Das muss gefeiert werden – aber mit nur einem Getränk und ohne Snacks. Viel zu teuer, längst auch für die junge und gut gebildete libanesische Mittelschicht, die gerade die heftigste Inflation in der Geschichte des Landes erlebt. Der Zettel mit dem WLan-Passwort klebt auf dem Tisch, alle tippen in ihre Handys ein: "liveitdaybyday" – lebe Tag für Tag. Nichts für Shaghik. Sie macht lieber Pläne, denn ihre ersten Bewerbungen hat sie schon geschrieben. "Klar wird meine Arbeit hier gebraucht – aber Libanesische Pfund sind doch nichts mehr wert. Jetzt zählen nur noch frische Dollar!" Nächste Woche hat sie die Möglichkeit, an einem Workshop in den USA teilzunehmen. "Vielleicht gehe ich dann auch bald ganz dorthin", sagt sie schulterzuckend.
Korrupte Politelite
Freundin Elisa steckt gerade mitten im Psychologie-Studium. "Ich liebe dieses Land", sagt die 21-Jährige und legt die Hand aufs Herz. "Aber wie soll das für mich weitergehen? Die Uni findet nur noch online statt, wenn überhaupt. Viele Professoren kommen inzwischen gar nicht mehr. Warum auch, sie bekommen ja auch kein Gehalt!" Elisa war dabei, als im Oktober 2019 viele Beiruter auf die Straße gingen. Das war Monate vor der Explosion. Es war schon damals nicht mehr zu verbergen, dass die korrupte Politelite das Land endgültig abgewirtschaftet hatte. Immer öfter gab es lange Stromausfälle. Als die Regierung schließlich ihre Pläne öffentlich machte, neue Steuern erheben zu wollen – zum Beispiel auf Whatsapp-Telefonate – brachte es besonders für die jüngere Generation das Fass zum Überlaufen. Aber die Wut von damals ist erstickt. Lähmung und Frustration haben sich breitgemacht.
Eine, die weiß, warum das so ist, ist Juliana Sfeir. Als Programmdirektorin des ökumenischen Fernsehsenders SAT-7, der von Beirut aus den gesamten Nahen Osten bedient, nimmt die Nachrichtenfrau jede aktuelle Entwicklung im Land genau unter die Lupe. Sie sitzt in ihrem Büro oben an den Hängen über Beirut und erklärt, als wieder einmal Strom und damit Licht und Klimaanlage für ein paar Minuten ausfallen. Sfeir lächelt spöttisch: "Wir Libanesen denken gerade nur noch daran, wie wir unser tägliches Brot organisieren. Da bleibt nur wenig Raum für revolutionäre Kraft. Das kommt der altgedienten Politikerriege sehr gelegen."Juliana Sfeir: "Es kann nicht sein, dass alle das Land verlassen.""
"Viele von uns sind entmutigt"
Auch sie reihte sich im Oktober 2019 ein, als die Massen zum Platz Al Burj zogen und mehr Gerechtigkeit, mehr Demokratie forderten. "Damals hatten wir noch keine Ahnung, was durch die Explosion noch auf uns zukommen sollte“, sagt sie nachdenklich. "Viele von uns sind entmutigt, und ja, wir sind es so leid! Aber die Antwort kann nicht sein, dass alle das Land verlassen. Wir müssen reden!" Das tut die 53-Jährige mit ihrem Team sieben Tage die Woche vor den Kameras der SAT-7-Studios. An die 25 Millionen Menschen erreicht der Fernsehsender weit über den Libanon hinaus, darunter Millionen Kinder und Jugendliche.
Für eine seiner Kinderserien, die ein Team im Lockdown konzipiert hatte, um die Jüngsten aus ihrer Isolation herauszuholen, war SAT-7 kürzlich für den von den Vereinten Nationen geförderten Prix Jeunesse nominiert. Aber die größte Aufmerksamkeit von Produzenten wie von Zuschauern liegt seit Monaten auf einer Sendung: "You are not alone", heißt "Du bist nicht allein". Ein Konzept, bei dem die Zuschauer über die sozialen Netzwerke oder per Anruf im Studio selbst Themen setzen und über ihre Nöte und Ängste sprechen können."Dieses Angebot ist ein Ventil. Es ist zu viel geworden für einen alleine in diesem Land, das schon lange eine so schwere Last zu tragen hat."
Das spürt auch die 83-jährige Saada Kazzi, die schon immer für sich wohnt, in einem kleinen Zimmer mit Küche und Bad auf dem Gang, mitten in Beirut. Normalerweise hilft der Neffe, der im Ausland lebt, mit der Miete aus. Aber seit Zahlungswege aus dem Ausland unsicher geworden sind und die Rente ausbleibt, lebt Saada Kazzi unter dem Existenzminimum. Nachbarn helfen seit Monaten mit abgelegten Kleidern aus. Fahdi Bejani besieht sich ihr tränendes Auge und telefoniert dann mit einer Apothekerin, die ehrenamtlich zum Netzwerk der Franziskaner gehört, um irgendwo in der Stadt noch bezahlbare Augentropfen aufzutreiben. "Das ist kein Leben", sagt die Seniorin leise. Auf ihrem Nachttisch liegt der Flyer der Katab, der sozialdemokratischen Partei des Libanon: "178 Schritte hin zu einem neuen Libanon", verspricht der Titel. Für Saada Kazzi und De Gaule Akel ist dieser Weg zu weit.