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28. März 2023
Interview:   Kristina Balbach
Interview mit Münchner Ärztin Eiman Tahir

"Viele meiner Patientinnen sind hochtraumatisiert"

Als junge Frau wollte Eiman Tahir Gesundheitsministerin im Sudan werden. Heute arbeitet sie als Gynäkologin in München. Ein großes Glück für die vielen Frauen mit Migrationshintergrund, die von Weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) betroffen sind. Allein in Deutschland leben rund 75 000. Und es werden immer mehr. Ein Gespräch über großes Leid, das sich längst nicht mehr am Rand der Gesellschaft abspielt. 
28. März 2023
Text: Kristina Balbach   Kristina Balbach

Frau Tahir, Sie kommen gerade aus dem Kreißsaal.

Ich habe einem Mädchen per Kaiserschnitt auf die Welt geholfen. Zurzeit werden viele von ihnen geboren. Man sagt, dass die Natur in unruhigen Zeiten mehr Mädchen hervorbringt, um die Zukunft zu sichern.

Aber gerade die Zukunft von Mädchen ist vielerorts unsicher. Wir sprechen über FGM. Allein in Deutschland leben rund 75.000 beschnittene Frauen. Nimmt diese Zahl zu?

Was ich in meiner Praxis sehe: Ja. Ich sehe Zwölfjährige, die beschnitten sind. Die Familien stammen aus Somalia, Sudan oder Eritrea, aus Burkina Faso oder Nigeria.

Ihre Praxis liegt mitten in München, aber die wenigsten Ihrer Patientinnen sind Deutsche.

90 Prozent meiner Patientinnen haben einen Migrationshintergrund. Ein Drittel davon ist von FGM betroffen.

Haben Sie sich bewusst „spezialisiert“?

Es war eher eine Dynamik. Als ich die Praxis vor gut zehn Jahren übernommen habe, wechselte innerhalb eines Jahres fast der ganze Patientinnenstamm. Die meisten Deutschen bleiben unter sich, Migrantinnen auch. Ich habe aber bis heute deutsche Patientinnen, die bewusst zu mir kommen, weil sie schätzen, was ich tue. Migrantinnen reisen teilweise aus anderen Bundesländern an.

Wer sind diese Frauen?

Sie stammen aus Nordost- und Westafrika oder sind afghanisch, syrisch, irakisch und kurdisch. Ich bin Muslima und spreche arabisch. Für viele Frauen ist das wichtig, denn gynäkologische Themen sind Vertrauensthemen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht mindestens eine Frau behandle, die von FGM betroffen ist.

Klingt, als stünden Sie ziemlich alleine da.

Es gibt in München noch eine Chirurgin, die betroffene Frauen operiert. In Nordrhein-Westfalen kenne ich noch einen Kollegen, der sich darauf spezialisiert hat. Dabei nimmt der Bedarf zu. Ich halte Vorträge, weit über Bayern hinaus. Für Gynäkologinnen, Hebammen, Kinderärzte und Sozialpädagogen. Für alle, die mit Migrantinnen zu tun haben. Gerade in Kliniken kommen immer mehr Ärzte und Pflegekräfte mit solchen Frauen in Berührung. Ist eine Patientin nach dem sogenannten Typ 3 beschnitten – also unter Umständen mit entfernter Klitoris und einer Vagina, die bis auf eine kleine Öffnung für Urin und Blutung zugenäht ist –, eine solche Frau kann man während der Geburt nicht vaginal untersuchen, da kann man keinen Katheter legen, die Anatomie ist völlig verändert. Das ist eine große Herausforderung.

Wie begleitet man eine solche Geburt?

Viele Frauen bekommen einen Kaiserschnitt, weil es anders nicht möglich ist. Manchmal wird geöffnet oder ein Dammschnitt gemacht, um Platz zu schaffen. Für die Frau ist das alles mit großen Schmerzen und Angst verbunden. Da braucht man viel Zeit.

Und Zeit ist Geld. In den Medien ist da einiges über Sie zu finden, zum Beispiel: „Ärztin steht vor der Pleite“.

Tatsächlich war ich schon bei Gericht. Aus Sicht der Krankenkassen bin ich unwirtschaftlich. Ich passe nicht ins Raster. Jetzt soll ich viel Geld zurückzahlen. Sogar der frühere OB Christian Ude hat sich für mich eingesetzt. Bislang ohne Erfolg. Viele meiner Patientinnen sind hochtraumatisiert. Alleine schon, wenn sie den Untersuchungsstuhl sehen ... Sie zittern oder weinen. Aber ich sehe keinerlei Interesse für meine Arbeit. Ich wünsche mir eine Ausnahmeregelung für meine Praxis.

Wie kommen Sie zurecht mit all den schlimmen Dingen, die Sie sehen?

Natürlich empfinde ich mit den Frauen mit. Darum mache ich für mich Supervision, um diese Bilder zu verarbeiten.

Welche Bilder sind das?

Was ich nie vergessen werde, damals im Praktikum an der Uniklinik von Khartoum: Da wurde eine Frau nach der Hochzeitsnacht eingeliefert mit schlimmsten Genitalverletzungen. Sie musste stundenlang operiert werden. Sie hat überlebt. Es gibt im Krankenhaus auch die „Fistelstation“. Dort leben Frauen, die von ihren Familien verstoßen wurden, weil sie inkontinent sind. Diese Frauen haben aufgrund von Beschneidung schlimme Geburtserlebnisse hinter sich. Oft verstirbt das Baby, weil es nicht herauskann. Bis dahin drückt es mit dem Kopf so lange gegen die Scheidenwand, bis ein Loch zur Blase entsteht. Eine dieser Frauen lebte damals schon seit Jahren in diesem Trakt und verkaufte ihre Handarbeit. Sie hoffte, eines Tages das Geld für eine Operation beisammen zu haben.

Haben Sie nie überlegt, zurückzugehen? Sie wollten doch als junge Frau Gesundheitsministerin im Sudan werden.

Die Regierung hätte mich längst aus dem Weg geschafft, glauben Sie mir. All die Jahre floss das Geld nur ins Militär statt in die Gesundheit der Menschen. Das ganze System ist marode. Ich habe während meiner Zeit dort so viele Totenscheine ausstellen müssen, wie wohl nie mehr in meinem Leben. Vergangenes Jahr konnte ich im sudanesischen Fernsehen ein Interview gegeben. Und ich habe in Khartoum eine Vorlesung gehalten. Das ist doch ein Anfang.

Viele afrikanischen Ländern verbieten FGM inzwischen per Gesetz.

Ja, Senegal, Ghana, Ägypten, Eritrea, auch Sudan… Gesetze gibt es seit vielen Jahren in einigen Ländern. Aber deren Einhaltung wird nicht kontrolliert.

 Was also kann die Lösung sein?

Es geht nur über Aufklärung. Diese grausame Tradition ist uralt. Man kann sie nicht innerhalb kürzester Zeit beenden, schon gar nicht mit Gesetzen. Sie muss aus den Köpfen. Wichtig ist auch, den Beschneiderinnen Alternativen für ihren Lebensunterhalt an die Hand zu geben. Zum Beispiel ein Stück Land.

Den weltweiten Zahlen zufolge gibt es erste Erfolge.

Ja, aber in Krisenländern wie Somalia oder Sudan stehen solche Fortschritte auf weichem Untergrund. Die Lage kann sich schnell wieder ändern.

Zeitgleich sprechen sich Frauen in zweifelhaften Communities wie „African Women are free to choose“ offen für FGM aus.

Ich denke, dass auf Frauen auch Druck ausgeübt wird. Besonders in Ländern, in denen islamistischer Terror die Oberhand gewinnt. Das hat nichts mit freier Meinung zu tun.

Wurden Sie schon einmal gefragt, ob Sie illegal eine Beschneidung vornehmen würden?

Nein. Meine Patientinnen wissen genau, auf welcher Seite ich stehe. Schon wenn beim Ultraschall klar ist, dass es ein Mädchen wird, sage ich den Eltern, wie schön ich es finde, dass dieses Kind ohne das Leid der Beschneidung leben wird.

Zur Person: Eiman Tahir (56) ist im Sudan aufgewachsen, wo Beschneidung von Mädchen gängige Praxis ist. Die Bildung der Eltern verschonte sie und ihre zwei Schwestern, wie Tahir sagt – der Vater war Diplomat und Lehrer, die Mutter Sekretärin. Schon als kleines Mädchen assistierte sie ihrer Großmutter, die Hebamme war. Tahir studierte Medizin in Berlin. Für ihre Doktorarbeit vertiefte sie FGM, arbeitete im Sudan. 2002 rettete diese Doktorarbeit in München vor Gericht eine sudanesische Familie mit drei Mädchen vor der Abschiebung. Ein Präzedenzfall. Inzwischen ist drohende FGM ein Asylgrund. missio fördert Projekte gegen FGM. Auch Eiman Tahir reist jedes Jahr nach Afrika, um ein Umdenken voranzubringen.

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